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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Vom Waldsofa auf die Schulbank

Vom Waldsofa auf die Schulbank

In der Waldschule verbringen die Kinder die ersten zwei Schuljahre ausschliesslich im Wald. Wie meistern diese Schülerinnen und Schüler danach den Übertritt ins konventionelle Schulsystem?

Rechnen, Schreiben, Lesen: Erstklässler lernen dies in der Regel vor einem Buch, ruhig auf ihrem Stuhl sitzend in einem bis zur Perfektion ausgestatteten und gestalteten Klassenzimmer. Rennen, Klettern, Pfeifen oder gar Schreien ist strikte untersagt. Raum und Zeit für solche Eskapaden bietet nur die kurze Pause. Für rund zwei Dutzend Kinder im Kanton St. Gallen funktioniert der Schulalltag jedoch genau umgekehrt. Sie besuchen die Waldkinder-Basisstufe. Gelernt und gelehrt wird mitten im Wald. Eine massive Wandtafel steht zwischen den grossen Tannen. Abgesägte Baumstämme bieten sich als Stühle an. Das Waldsofa, eine durch Plastikblachen geschützte Sitzgelegenheit, eignet sich für eine ruhige Pause. Die Klasse bewegt sich frei im Wald und wählt die Lernplätze passend zum Schwerpunktthema aus. Um das Einmaleins zu üben, drängt sich der Platz mit den vielen Tannzapfen auf. Für die Werkstatt rund ums Wasser verbringt die Gruppe Zeit am kleinen Bach. Um die Rechtschreibung zu trainieren, geht es zurück zum Stammplatz mit der grossen Wandtafel. Hier wird auch gemeinsam das Mittagessen gekocht – unter freiem Himmel, versteht sich. Eine Toilette sucht man vergebens. Bei Bedarf wird ein Loch gebuddelt. Ein ausrangierter Zirkuswagen dient als improvisiertes Schulzimmer. Doch in der Regel findet der Schulalltag draussen statt, und das bei jedem Wetter, auch im Winter. Bei Sturmwarnung wird der Unterricht auf die nahegelegene Wiese verlegt oder die Klasse besucht das Naturmuseum.

Wandtafel im Wald (Bild: Wüthrich)

Doch am Ende der zweiten Klasse hat die Waldschule ausgedient. Die Kinder werden in verschiedene Schulhäuser verteilt. Was geschieht nun mit der Bewegungsfreiheit, Naturverbundenheit und Selbstbestimmung? Wie passen die Outdoor­Waldkinder in eine konventionelle Indoor-Schulstruktur?

Weniger Regeln, mehr Freiheit: Und was ist mit der Leistung?
«Der Wechsel in eine unbekannte Schule, in ein neues soziales Umfeld ist für ein Kind immer ein grosser Schritt – egal, ob eine Waldschule involviert ist oder nicht», sagt Eva Helg. Die gelernte Pädagogin hat selbst in der Waldschule unterrichtet, ist heute deren pädagogische Leiterin und Mutter zweier Waldkinder. «Eine wichtige Komponente beim Wechsel ins konventionelle Schulsystem ist die neue Lehrperson. Wird ein offener, kompetenzorientierter Unterricht geboten, sind die ehemaligen Waldkinder gut aufgehoben.» Die schulischen Leistungen betreffend fallen die Waldkinder nicht auf oder ab.

«Es ist kein Geheimnis, dass ‹Schönschreiben› in der Waldschule kein Schwerpunktthema ist und in diesem Bereich vielleicht ein Nachholbedarf besteht. Auch bei den Einmaleins-Reihen sind die Indoor-Schülerinnen und -Schüler in gewissen Fällen möglicherweise ein wenig sattelfester», umschreibt Eva Helg die Übertrittserfahrungen. Die neuen Lehrpersonen attestieren den Waldkindern laut Helg oft eine gute Konzentrationsfähigkeit und ein überdurchschnittliches Engagement. Die ehemaligen Waldschülerinnen und Waldschüler sind hingegen den konstanten, hohen Lärmpegel in den Schulräumen nicht gewohnt. «Durch die Weite des Waldes war Lärm im Schullalltag nie ein Problem und die gemeinsame Pause diente als Ruhephase. Im gewohnten Schulsystem ist es genau das Gegenteil», erklärt Helg.

Alltag im Wald, inklusive korrektem Datum. (Bild:Wüthrich)

26 Kinder im Alter zwischen vier und acht Jahren werden in der Waldbasisstufe von einer Primar-, einer Kindergartenlehrperson und einer Praktikantin betreut. Je nach Lern- und Entwicklungsstand braucht ein Kind für die Basisstufenphase zwischen drei und fünf Jahre. Der Unterricht ist situationsbedingt und individualisiert.
An diesem Morgen inspizieren die Kinder zusammen zuerst den Waldboden – riechen, fühlen, schmecken. Aufgrund seiner Beschaffenheit diskutieren sie das aktuelle Wetter und wie dieses das Wachstum der vor ein paar Tagen gepflanzten Bohne beeinflusst. Über die Lernfortschritte jedes Kindes führen die Lehrpersonen ein Portfolio, das dreimal jährlich mit den Eltern besprochen wird. Die durch private Gelder und die Schulbeiträge finanzierte Waldschule folgt dem offiziellen Lehrplan und den stufengerechten Lernzielen. Doch trotz Lernkontrollen und Zeugnissen ist das freie gemeinsame Spiel in der Natur die Hauptkomponente im Schulalltag. «Unterrichte ich als Lehrperson in einem Schulzimmer, agiere ich als Polizistin. Es braucht unzählige Regeln, damit trotz des geringen Platzes in einem beschränkten Raum und mit limitiertem Material ein individualisierter Unterricht möglich ist», erklärt die Waldpädagogin Caroline Knöpfel. Seit zwölf Jahren unterrichtet sie im Wald. «Es ist klar: Auch im Wald braucht es Regeln. Doch durch den unbegrenzten Raum und Platz sowie die Menge an Lernmaterial, die der Wald automatisch bietet, ist die Lehr- und Lernsituation eine total andere.» Laut sein dürfen, sich viel bewegen, selbstbestimmt Grenzen ausloten, neue Sachen ausprobieren und dabei auch scheitern oder dreckig werden ist eine Selbstverständlichkeit und nicht etwa ein Problemfaktor.

Wechsel ins konventionelle Schulsystem als positive Erfahrung
Trotz Bewegungsfreiheit, Spielkultur und flexiblen Lernstrukturen: Der Wechsel ins konventionelle Schulsystem sei für die Kinder ein positive Veränderung, ist sich das Waldschulteam einig. «Viele verbringen die Kindergartenzeit und die ersten zwei Primarschuljahre im Wald. Danach ist es Zeit für einen Wechsel. Im Alter von acht Jahren freuen sie sich auf einen Austausch mit grösseren Kindern, einen Pausenplatz, eine Turnhalle, einen neuen Schulweg, eine Schulhauskultur mit vielen Kindern und neue Freundschaften», betont die pädagogische Leiterin Helg. Dass die Kinder den Wald vermissen würden, sei ein Fakt. Doch ein Drittklässler habe maximal sieben Lektionen Unterricht pro Tag. Es bleibe genügend Freiraum neben der Schule, um die Natur und den Wald intensiv zu erleben.

Unterricht an der frischen Luft. (Bild: Wüthrich)

Diese Meinung teilt auch Roland Unternährer, Präsident des Trägervereins Waldkinder St. Gallen. Seine ältere Tochter hat vergangenen Sommer von der Waldschule in eine Privatschule gewechselt. «Die Waldschule war für unsere Tochter und uns als Eltern eine inspirierende und bereichernde Erfahrung. Wir wollten sicher sein, dass unsere Tochter weiterhin von einem offenen, selbstbestimmten Lernumfeld profitiert – so wie bis anhin in der Waldschule», erklärt Roland Unternährer und fügt an: «In der öffentlichen Schule ist dies Glückssache, abhängig von der Lehrperson. Dieses Risiko wollten wir nicht eingehen.

Nur die wenigsten Eltern wählen nach der Waldbasisstufe eine weitere Privatschule. Grund dafür sind die Kosten. Der Unterricht im Wald kostet pro Kind je nach Einkommen zwischen minimal 525 Franken und maximal 981 Franken pro Monat. Für viele Eltern ist das ein grosser Betrag, der bewusst für eine beschränkte Zeit in die Ausbildung der Kinder gesteckt wird. «Eine private Schulkarriere vom Kindergarten bis zum Schulabschluss kann sich kaum jemand leisten. Eine Waldmittelstufe und -oberstufe macht darum schon vor diesem finanziellen Hintergrund keinen Sinn», betont Helg. Eine Erweiterung der Waldschule ist darum nicht vorgesehen; eine Weiterentwicklung jedoch in Planung. Bis anhin fehlen Betreuungsstrukturen nach Schulschluss. In Zukunft soll sich das ändern. Gerecht wird die Waldschule aber auch ihrer Vorreiterfunktion in der Schweiz und im Ausland. Am 26. August 2017 findet das dritte St. Galler Fachforum für Waldkinderpädagogik unter dem Titel «Bildung als Abenteuer – wenn Natur das Klassenzimmer ersetzt» statt. Und vor Kurzem war Eva Helg in Südkorea zu Gast, um die Waldpädagogik und ihre Stärken vor Ort vorzustellen und Pädagogen auszubilden.
www.waldkinder-sg.ch

publiziert « bildung schweiz », 07/2017

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