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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Wann ist ein Kind arm?

Wann ist ein Kind arm?

Glücklich, sauber und sicher: Die Schweiz zählt weltweit zu den Ländern mit der höchsten Lebensqualität. Politisch stabil und wirtschaftlich versiert: Armut scheint hier fehlplatziert. Laut dem Bundesamt für Statistik ist jedoch jedes 20. Kind in der Schweiz akut von Armut betroffen. Das sind landesweit 76’000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die Zahlen stossen auf Erstaunen und werfen Fragen auf: Was heisst «Arm-Sein» in der Schweiz überhaupt? Was ist der Grund? Und was bedeutet Armut für ein Kind? Ein Gespräch mit Armutsexpertin Bettina Fredrich, Leiterin Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz.

 

Jedes 20. Kind ist in der Schweiz von Armut betroffen. Wer sind diese Kinder?
Bettina Fredrich: «Armutsbetroffene Kinder stammen oft aus zwei verschiedenen Familienkonstellationen. Sie haben Eltern, die im Niedriglohnsegment arbeiten und deren Lohn unter der Armutsgrenze liegt. Häufig sind die Eltern schlecht qualifiziert. Verlieren sie ihre Arbeit, ist der Weg zurück ins Erwerbsleben ungemein schwer. Überdurchschnittlich von Armut betroffen sind auch Kinder von Alleinerziehenden. Nach einer Trennung müssen auf einmal zwei Haushalte finanziert und Arbeits- und Kinderbetreuung neu geregelt werden. Das Geld reicht nicht mehr aus.»

 

Was bedeutet „Arm-Sein“ für ein Kind?
Bettina Fredrich: «Eine Einladung für ein Geburtstagsfest, die Teilnahme am Sporttag oder einem Schulausflug in den Tierpark: Turnschuhe, Geburtstagsgeschenke und Ausflüge kosten Geld. Diese Ausgaben können sich armutsbetroffene Familien nicht leisten. Soziale Kontakte, Ferien, Freizeitaktivitäten oder Hobbies werden aus finanziellen Gründen gestrichen. Auch fehlen Geld und Raum für jegliche Art von Förderung. Prekäre Wohnungsbedingungen machen konzentriertes Lösen von Hausaufgaben oder Einladen von Freunden schwer. Das Geld reicht nicht für die Nachhilfestunden, um den Übertritt ins Gymnasium zu schaffen oder für den Mitgliederbeitrag im Fussballverein. Für Kinder und Jugendliche bedeutet Armut nicht nur materieller Verzicht und soziale Isolation, sondern auch ungleiche Bildungs- und Entwicklungschancen.»

 

In wie weit bleibt Kinderarmut «im Verborgenen» und von der Gesellschaft unbemerkt?
Bettina Fredrich: «Armut sieht man den Kindern oft nicht an. Die Eltern versuchen alles, um ihre finanziellen Probleme zu verstecken und ihren Kindern ein gutes Leben zu bieten. Sie haben mehrere Jobs und verzichten auf vieles: Pausen, Freunde, Ferien, einen Besuch beim Arzt. Die Folgen sind Überlastung, Stress, Krankheit und im Extremfall der Verlust der Arbeitsstelle.»

 

Die Studie des Bundesamtes für Statistik orientiert sich an den Zahlen von 2014 und wurden Ende 2016 publiziert. Wie haben sich die Kinderarmuts-Zahlen ihrer Meinung nach in den vergangenen drei Jahren entwickelt?
Bettin Fredrich: «Fakt ist, dass es der Schweizer Wirtschaft immer noch gut geht. Trotzdem fallen Jobs durch Modernisierung und Digitalisierung im Niedriglohnsegment weg. Die Zahlen der Sozialhilfebezüger und ausgesteuerten Menschen haben in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen – und damit direkt oder indirekt auch die Kinderarmut.»

 

Etwas über 49 000 Kinder – und damit an die 70 Prozent der von Armut betroffenen Kinder – leben in Haushalten, die trotz Erwerbsarbeit kein Einkommen oberhalb der Armutsgrenze generieren können. Arm trotz Arbeit: Wer «versagt» in diesen Fällen: die Wirtschaft, der Staat oder die Gesellschaft?
Bettina Fredrich: «Es sind verschiedene Faktoren die ineinandergreifen. Eine Wirtschaft, die keine existenzsichernden Löhne zahlt; ein Staat der Familie als Privatsache betrachtet und nicht darin investiert; ein Sozialhilfesystem, das für Notlagen geschaffen ist und nicht für eine nachhaltige Besserstellung Armutsbetroffener und eine Politik, die sich durch Sparmassnahmen definiert und damit oft die ärmste Gesellschaftsschicht trifft.»

 

Wenn ich als Aussenstehender – sei es Nachbar, entferntes Familienmitglied oder Kollegin – ein armes Kind unterstützen möchte: Was soll ich tun? Und was soll ich auf jeden Fall bleiben lassen?
Bettina Fredrich: «Kinderarmut ist ein sehr sensibles Thema. Viele Familien schämen sich für ihre finanzielle Situation und haben Angst, dass ihre Kinder stigmatisiert werden. Es gibt keine Empfehlungen oder einen Leitfaden, wie man als Aussenstehende reagieren soll. Wichtig ist sicher, dass ein Vertrauensverhältnis besteht. Basierend darauf kann man Hilfe anbieten. Einen Ausflug mit den Kindern, einen gemeinsamen Spielnachmittag, die Eltern entlasten und den Kindern eine Freude bereiten. Wer helfen möchte, kann sich auch an Organisationen wenden, die sich für armutsbetroffene Kinder einsetzen. Oder man kann sich auf politischer Ebene für eine faire Armutspolitik engagieren; von Frühförderung über Hausaufgabenhilfe, zu Familienbegleitung oder sozialen Quartierprojekten.»

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