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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Das Appenzellerland reicht bis nach Moldawien

Das Appenzellerland reicht bis nach Moldawien

Die Speichnerin Ursina Naef Hecke lebt in Moldawien und setzt sich für Kinder mit einer Behinderung ein. 

Ion war ein gesundes Baby. Doch kurz nach der Geburt setzte seine Atmung aus. Der neugeborene Junge wurde reanimiert, für klinisch tot erklärt und überlebte trotzdem – blind, geistig und körperlich behindert. Den Eltern wurde noch im Krankenhaus angeboten das Baby in ein Kinderheim zugeben. Kosten und Verantwortung würden vom Staat übernommen. Die Familie entschied sich dagegen und pflegt ihren Sohn Zuhause. Eine Schule hat der Junge nie besucht, Möglichkeiten zur Therapie waren selten. Je grösser Ion wurde, desto kleiner wurde sein Bewegungsradius und beschränkte sich schlussendlich auf ein paar Quadratmeter im Elternhaus ausserhalb der moldawischen Hauptstadt Chişinău. «Mein Mann und ich versuchen Ion so gut wie möglich zu tragen und zu bewegen, doch wird sind alt und der Junge wird immer schwerer,» erklärt Mutter Doamna Valentina. Geld für Hilfsmittel zur Pflege fehlt. Ion ist heute 21 Jahre alt. Er reagiert auf Stimmen. Mit Hilfe kann er ein wenig kriechen. Dank einer Augenoperation sieht er rund 50 Prozent. Er liebt Besuch und Musik und seit wenigen Monaten die Ausflüge in den Park. Möglich ist diese neue Freiheit dank einem ausgemusterten Rollstuhl aus Herisau und der Speichnerin Ursina Naef.

Hühnerstall statt Pool
Ursina Naef Hecke lebt seit sechs Jahren in der moldawische Hauptstadt Chişinău. Mit ihrem Mann Jonathan, der sich vor Ort um die DEZA-Wasserprojekte kümmert, zog sie im Sommer 2011 in eine Haus in der Stadt, lernte die Sprache und freundete sich mit den Einheimischen und ihrer Kultur an. Nur wenige Monate nach ihrer Ankunft kam Tochter Hanna und ein Jahr später Paloma im lokalen Krankenhaus zur Welt. Die kleine Familie fühlt sich in ihrer neuen Heimat wohl, ist bestens integriert und bringt die moldawischen Nachbarn zum Staunen. «Wir bauten im Garten einen Hühnerstall. Die Nachbarn waren sehr überrascht. Sie dachten als Ausländer bauen wir einen Swimmingpool!» erinnert sich die Ausserrhoderin.

Ion mit seinen Eltern. (Photo: Wüthrich)

Ursina Naef ist jedoch nicht nur eine passionierte Mutter, sondern auch Architektin mit nationaler und internationaler Erfahrung. Auf ihrem angestammten Beruf gibt es in Moldawien kaum Einsatzmöglichkeiten. Die 43-Jährige hat sich darum «umorientiert». «In Moldawien sind viele Familien mit Kindern mit einer Behinderung auf sich alleine gestellt. Es fehlt an Schulen, Hilfsmitteln und Therapiemöglichkeiten, so wie im Fall von Ion», erklärt Naef. In Gratiesti, einem kleinen Dorf ausserhalb der Hauptstadt ist die Situation besonders prekär. Hier leben überdurchschnittlich viele Familien mit Kindern mit einem Handicap. Ausser ein kleines Therapiezentrum gibt es keine Unterstützung. Und genau hier setzt Naefs Projekt an. «Es fehlt an Fachkräften und Therapieplätzen. Nach Gesprächen mit der Gründerin des Zentrums und Recherchen vor Ort, engagiere ich mich nun direkt im Therapiezentrum».

Direkte Hilfe ohne Umwege
Die Strategie ist direkt und effizient. Die Ostschweizerin ist verantwortlich für den Lohn von drei Therapeutinnen und unterstützt das Zentrum und die betroffenen Familien. Insgesamt sind das monatlich 1500 Euro. Gedeckt werden die Kosten im Moment von Spenden von Freunden und Familie aus der Schweiz. Seit Mai 2016 wurden über 70 Kinder im Zentrum behandelt – Tendenz steigend. Ein internationales Therapiezentrum aus der Hauptstadt ist von Naefs Einsatz im Dorf so begeistert, dass es eine vierte Therapeutin fürs Zentrum finanziert.

Gruppenbild: Ursina Naef mit den Therapeutinnen (Photo: Wüthrich)

Die Kinder stammen aus armen Familien. Wer kann, spendet einen kleinen Betrag. Ansonsten ist die Behandlung gratis. Die Therapeutinnen sind ausgelastet. «Für Jugendliche und junge Erwachsene wie Ion gibt es noch keine Therapieoptionen. Gerne würden wir einen Therapeuten engagieren, der sich auf solche Fälle konzentriert», konkretisiert Naef. Ihr Engagement endet aber nicht im Zentrum. Sie sucht das Gespräch mit den Betroffenen, wird so auf persönliche Schicksale aufmerksam und hilft wo sie kann. «Der ausgediente Rollstuhl aus Herisau hätte in der Schweiz niemandem mehr genützt. Hier bewegt er so viel und verändert nicht nur das Leben von einem Einzelnen, sondern von einer ganzen Familie.»

Weitere Infos:
Ursina Naef Hecke, Str. Agnesa Rosca 6, MD – 2009 CHISINAU, MOLDOVA
ursinanaef@gmx.ch
Naef Projektkonto (Raiffeisenbank Speicher): IBAN: CH8881012000003358488

 

Seit 1991 ist die Republik Moldau – auch Moldawien oder Republik Moldova genannt – kein Teil der Sowjetunion mehr, sondern ein eigenständiger Staat. Als Amtssprache gilt Rumänisch. Das Binnenland grenzt an die Ukraine, Rumänien und Transnistrien. Moldawien mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern gilt als ärmstes Land Europas. Korruption, Misswirtschaft und Armut prägen die Gesellschaft. Wer kann verlässt das Land, um im Ausland Arbeit zu suchen.

Der Artikel wurde am 11. Februar 2017  in der Appenzeller Zeitung veröffentlicht. 

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