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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Oh, Baby – wo liegt das Problem?

Oh, Baby – wo liegt das Problem?

Bundespräsident Didier Burkhalter wendet sich in einer Dringlichkeitsrede an die Nation – und zwar mit der eindeutig Botschaft: „Mehret euch – und zwar schnell“. Grund dafür ist die zum Nullpunkt tendierende Geburtenrate. Die Kampfjet-Diskussion ist erledigt. Denn was gibt es zu verteidigen, wenn die Eidgenossen sowieso langsam aussterben? Mit dem Baby-Mangel vor Augen und der Existenzangst im Rücken gehen Burkhalter und der Staat in die paarungspolitische Totaloffensive: Mit einem Milliardenkredit werden Single-Treffs, Flirtkurse, Benimmratgeber, Partnervermittlungsagenturen und sogar Fruchtbarkeitsbehandlungen finanziert. Oben drauf gibt’s für Eltern Babybonus, Steuererlass und Erziehungsgeld. Für Schweizerinnen und Schweizer tönt das beschriebene, erfundene Szenario wie eine Mischung aus Wunschkonzert, Komödie und Horrorfilm und fühlt sich an, als ob Didier Burkhalter persönlich auf der Bettkante sitzt. In Singapur hingegen ist diese Situation Realität.

«Wenn wir so weitermachen, können wir einpacken. Dann gibt es keine hier geborenen Bürger mehr, welche die Mehrheit stellen».

Das Singapurische Volk paart sich nicht, beziehungsweise zu wenig. Die Geburtenrate mit statistisch an die 1,2 Kindern pro Frau (in der Schweiz liegt die Rate bei 1, 5 Kindern) gehört zu den niedrigsten der Welt – oder wie es er im vergangenen Jahr verstorben Staatsgründer Lee in einer seiner bekannten Rede auf den Punkt brachte: «Wenn wir so weitermachen, können wir einpacken. Dann gibt es keine hier geborenen Bürger mehr, welche die Mehrheit stellen». Denn um den Bestand der einheimischen Bevölkerung zu erhalten, müssten durchschnittlich 2,1 Kinder pro Frau geboren werden. Die Botschaft ist klar: Singapur braucht eigenen Nachwuchs – und weil sich die Bürger nicht zeugungswillig zeigen, hat der Staat die Regie übernommen und finanziert mit umgerechnet 1,4 Milliarden Schweizer Franken pro Jahr alles, was das Volk «gebärwillig» machen könnte: Starten tut die Unterstützung schon vor der Zeugung. Der Staat übernimmt 75 Prozent der Fruchtbarkeitsbehandlung. Kind Nummer 1 & 2 erhalten einen Willkommensbatzen von je an die 4300 Franken. Jedes weitere Baby wird mit 5700 Franken honoriert. Zu Geburt gibt zusätzlich über 2000 Franken an künftige Arztrechnungen für den neuen Erdenbürger, so wie 16 Wochen bezahlter Mutterschaftsurlaub und eine Woche Vaterschaftsurlaub. Kinderbetreuung wird subventioniert und Familien werden bei Wohnungskauf und Steuern privilegiert behandelt. Die maximale Steuerersparnis liegt je nach Erwerbstätigkeit der Eltern und Anzahl der Kinder bei rund 35’500 Franken pro Jahr. Orchestriert wird der Katalog an Zeugungs-Anreizen seit Ende 2012 vom neu geschaffenen Ministerium für Sozial und Familienentwicklung.

Doch der von der politischen Elite angestimmte Balzruf greift nicht aufs Fussvolk über: „Oh Baby, wo liegt das Problem?“, möchte man dem Singapurische Volk zurufen.

Doch der von der politischen Elite angestimmte Balzruf greift nicht aufs Fussvolk über: „Oh Baby, wo liegt das Problem?“, möchte man dem Singapurische Volk zurufen. Die jungen Leute, die auf Kinder keine Lust haben, liefern in ihren Lifestyle-Blogs mit Titeln wie „Das Wahre Singapur“ oder „Neurotic Ramblings of a Singaporian Couple“ die Antworten: horrende Kosten und Preise (Singapur wurde 2014 zur Stadt mit den weltweit höchsten Lebenshaltungskosten gekürt), mangelnder und teurer Wohnraum, Überbevölkerung, Egoismus und enormer Leistungsdruck. Mittelmass ist tabu und das hat seinen Preis. Um den Platz an einer guten Schule zu sichern, eine Kleinstwohnung zu kaufen und sich ein Auto zu leisten, verschulden sich junge Paare für Jahrzehnte. Unter dem Geltungs- und Leistungszwang löst sich der staatliche Zustupf in Luft auf. Für Kinder fehlt der Platz – vielleicht nicht im Herz, aber in der Wohnung, im Haushaltsbudget und in der neuen Selbstwahrnehmung. Die heutigen jungen Singapurerinnen sind nicht mehr gewillt ihre Ausbildung und Karriere zu opfern, um für die Kinder zu sorgen und die Schwiegereltern zu pflegen. Traditionelle Rollenbilder haben ausgedient, Selbstbestimmung herrscht – und die lassen sich die Frauen nicht mehr abkaufen – auch nicht von einem grosszügigen Staat.

publiziert 11. juli 2014, Tagesanzeiger

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