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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Der trockene Messie

Der trockene Messie

«Eine ungelesene Zeitung in den Müll zu werfen, war für mich unmöglich; Leute einzuladen unvorstellbar. Ob in der Badewanne, auf dem Bett oder in der Küche – bei mir staute sich das gesammelte Material überall. Ich bin ein Messie.

Messie kommt vom englischen Wort «mess», was Chaos oder Unordnung bedeutet. Das Messie-Syndrom umschreibt Menschen, deren Leben durch das Anhäufen von Dingen bestimmt wird. In den Wohnungen bleibt kaum Platz zum Leben. Oft reagiert das Chaos. Es gibt verschiedene Ursachen, die zum Messie-Tum führen können. Die Einen sind schon in einem Messie-Haushalt aufgewachsen, bei den Anderen sind es Zwangsstörungen, kritische Lebensereignisse, Verwahrlosung oder Verlusterlebnisse. Mit dem Alter nimmt die Gefahr ein Messie zu werden zu, weil die Kraft fehlt, die gesammelten Dinge zu sortieren, wegzuräumen und oft eine Verwahrlosung dazukommt.

Im Material finde ich dieses «Sichersein», das ich bei den Menschen nie gespürt habe. Das Material ist immer da, wendet sich nicht ab von mir.

Man unterscheidet zwischen trockenen und nassen Messies. Ein nasser Messie hortet auch Lebensmittel und feuchte Abfälle. Warum ich zum Messie wurde, ist unklar. Wahrscheinlich war es die Suche nach Sicherheit. Im Material finde ich dieses «Sichersein», das ich bei den Menschen nie gespürt habe. Das Material ist immer da, wendet sich nicht ab von mir. Dazu habe ich mir meine ganz eigene Ideologie geschaffen: «Möglichst viel gebrauchtes Material wieder zu verwerten».

Ein leidenschaftlicher Sammler war ich schon immer. Als Dreijähriger habe ich Büchsen und Krawatten gesammelt, danach waren es Briefmarken oder Bilder von Autos. Als Teenager begann ich mich für Technik und Elektronik zu interessieren und alte Fernseher zu reparieren. Mein Zimmer war komplett gefüllt mit alten TV-Geräten und Elektronikzubehör. Um alles gesammelte Material lagern zu können, begann ich zusätzliche Räume zu mieten. Heute sind es an die zehn Lager – zwei Häuser, mehrere Scheunen und Garagen. Tonnen von Bauholz, Ziegeln, Karton, tausende von Video- und Musikkassetten, Zeitungen, Verpackungsmaterialien, alte Computer, Fernsehgeräte und Elektronikzubehör lagern hier.

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Das Ziel ist klar: Hier wohne und lebe ich – und nicht mein Material.

Eine gute Freundin hat mich dazu gedrängt Hilfe anzunehmen. Ich habe mein Messie-Haus in Flawil verlassen und bin nach Lütisburg gezogen. Und das Ziel ist klar: Hier wohne und lebe ich – und nicht mein Material. Das Haus in Flawil räume ich Stück für Stück und möchte es verkaufen. An meinem neuen Wohnort werde ich eine Brockenstube einrichten, um funktionsfähige gebrauchte Alltagsartikel zu verkaufen. Zu sammeln, habe ich grösstenteils aufgehört und widme mich nun ganz dem Wiederverwerten der Dinge. Bauholz und Ziegel verkaufe ich. Alte Computer werden zum Teil verschenkt. In gewissen Fällen ist auch die Kehrrichtverbrennungsanlage eine Option.

Ich habe mich bewusst für die Menschen und gegen das Material entschieden.

Das Gesammelte loszulassen braucht Überwindung. Doch Freundschaften, Kontakte, Gespräche und Nähe sind mir heute wichtiger als mein Material und erfüllen mich mehr. Ich habe mich bewusst für die Menschen und gegen das Material entschieden. Gerne hätte ich eine Lebensgefährtin, die mich versteht.

Appenzeller Messies kenne ich keine. Auch in der Selbsthilfegruppe Ostschweiz, in der ich mich engagiere, gibt es niemanden aus dem Appenzellerland. Die Gründe dafür? Die Selbsthilfegruppe ist nicht sehr bekannt und als Messie ist man ein Einzelgänger und wird sehr einsam. Und wer möchte sich schon exponieren? An meinem Arbeitsplatz verschweige ich meine Messie-Seite. Ich habe einen normalen Arbeitsalltag; bin Software-Experte und programmiere Steuerungen.»

Markus Zehnder, 57 Jahre, Lütisburg

publiziert 6. November 2012, Appenzeller Zeitung

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